Rezension
Von mir gelesen: Dr. Walter Kiefl
Bereits auf den ersten Blick besticht dieses Buch durch einen ästhetisch ansprechenden und liebevoll gestalteten Umschlag sowie seine phantasievollen und zum Träumen anregenden Illustrationen. Es handelt sich dabei aber nur bedingt um ein heiteres und fröhliches Buch, sondern vor allem um eine ernsthafte und tiefsinnige Auseinandersetzung mit dem Leben und dem, was es formt – oder in den Worten der Autorin: „Das Leben selbst gestaltet den Verlauf unserer Taten, aber auch unsere Gedanken, die ich hier in Gedichten zum Ausdruck bringe.“ Es sind aus einer reichen Lebenserfahrung hervorgegangene Erfahrungen und Erkenntnissse. Dabei gilt aber auch die Umkehrung, wie sie Ende des zweiten Jahrhunderts Marc Aurel (121-180), der Philosoph auf dem Kaiserthron, formuliert hat: „Unser Leben ist so, wie unsere Gedanken es formen“.
Diese Wechselwirkung zwischen den Gedanken und dem Leben, also Gedanken (und Gefühle) sowohl als Ursache als auch als Konsequenz des Lebens ist das zentrale Thema, das hier in Gedichten über Liebe, Schmerz, Ungewissheit, Einsamkeit, Unendlichkeit, Trauer und Dankbarkeit zum Ausdruck kommt. Sie sind nicht immer auf Anhieb zu verstehen, da die Autorin häufig Metaphern verwendet, mit der Sprache jongliert und sich mitunter bewusst von der gängigen Grammatik entfernt, um so einen (ihren eigenen) Rhythmus zu bilden, der die Phantasie des Lesers wecken soll, „damit dieser den philosophischen – oft auch surrealistischen – Sinn der Gedanken selbst entdecken oder interpretieren kann.“
Obwohl das Buch nicht einmal 60 Seiten umfasst, enthalten die einzelnen Beiträgen so viel an Inhalt und Tiefe zum Nachfühlen und Nachdenken, dass sich eine Rezension auf wenige Aspekte beschränken muss. Dafür habe ich ein mir besonders nahe gehendes Beispiel ausgewählt für das, was das Leben – genauer die Summe der Erfahrungen, die man im Verlauf seines Leben macht – bei einem empfindsamen Menschen anrichten kann:
Es war einmal ein Blümlein
Es war einmal eine Blume, eine rote Blume, die am Morgen ihre prächtige Farbe unter den Sonnenstrahlen ausbreitete. Es war eine Blume, die einfach dastand, zwischen den Büschen und Gräsern, am Fluss und auf den Bergen.
Eigentlich ein kleines Blümlein, nicht wichtig, nicht außergewöhnlich, ein wildes Blümlein.
Aber es stand da und lächelte zu jedem, der es betrachtete, und es schenkte ihm sein Parfüm.
Und dieses Blümlein war von vielen begehrt, obwohl es nicht großartig war. Aber es war ein Blümlein, das am Morgen glänzte, am Mittag lächelte und in der Nacht Wärme ausstrahlte. Alle wollten es anfassen und bei ihm sein. Und wenn sie schon genug von ihm hatten, gingen sie fort.
Jeder nahm ein Blättchen mit, diese roten Blättchen, die ihm selbst sein Leben gegeben hatten….
Das Blümlein bemühte sich, neue Blätter wachsen zu lassen, aber die Zeiten hatten seine Kräfte gemindert, denn alles auf der Erde ist vergänglich … wie die Liebe …
Es war einmal eine Blume, ein Blümlein, das seine ganze Liebe verbreitet hatte und alle Menschen konnten etwas davon bekommen …
Dieses Blümlein hatte aber jetzt keine Blättchen mehr, also strahlte es nicht mehr, es weinte nur.
Und wer mag ein Blümlein, das nur weinen kann?
Es war einmal ein Blümlein, ein wildes Blümlein, das es nicht mehr gibt …
Es war einmal ein Blümlein, ein wildes Blümlein, ein „ich“, das es nicht mehr geben kann, weil die Liebe selbst es vernichtet hat …
Es war einmal …
Wie in anderen Gedichten steht auch hier Trauer im Vordergrund: Trauer über die Vergänglichkeit der Zeit (und damit vielleicht auch der Vitalität und der (scheinbaren) Attraktion), Trauer über das Gefühl der inneren Leere, des „ausgebrannt seins“ und möglicherweise auch darüber, mehr (immateriell) gegeben als bekommen zu haben, d.h. nicht genug wertgeschätzt worden zu sein. Aber die Antwort der Autorin darauf ist nicht Resignation oder gar Verbitterung, sondern das Wissen, nicht anders zu können bzw. gekonnt zu haben und sich mit dem Bedürfnis und der Bereitschaft, Liebe zu sehen, sie zu spüren, sich (immer wieder) darauf einzulassen und sie weiterzugeben, treu geblieben zu sein. Dies kommt beispielsweise in dem Gedicht „Bedanke dich nicht“ (S.7) zum Ausdruck: Liebe zu empfinden und zu zeigen ist das Bedürfnis einer besonderen Seele in Bezug auf eine andere, und nicht an bestimmte Qualitäten und Verdiensten des Empfängers gebunden. Dies kostet in Anbetracht der damit verbundenen Risiken jedoch oft auch Kraft, doch tut sich der, der Liebe aussendet, damit auch unbeabsichtigt selbst etwas Gutes. Dies wird deutlich in dem Gedicht „Wenn die Nacht ihren Mantel ausbreitet“ (S.11), von dem ich abschließend die letzte Strophe zitiere:
„Es gibt keine lebenden Menschen
Und auch keine Toten.
Es gibt nur Wahrheit:
Die Wahrheit des „Liebe zu fühlen“
Auf Erden, im Himmel und in unserem Geist“
Dr. Walter Kiefl