Leseprobe
Nachdem man ihn und seinen Sack mit Reiseproviant gründlich untersucht hatte, wurde der Fremde vor den König gebracht. In demütiger Haltung näherte er sich dem Thron und warf sich auf der von einem der Wächter bezeichneten Stelle auf den Boden, wo er regungslos verharrte. Schon seit Langem hatte er sich nicht mehr so hilflos gefühlt wie jetzt. Über Mithradates Philopator hatte er bisher nicht viel Gutes gehört. Der König von Pontos galt als humorlos, streng, geizig und außerordentlich misstrauisch – und doch sah er in ihm seine einzige Rettung, seitdem ihm ein ahnungsloser Reisegefährte berichtet hatte, dass die Geschwisterkönige in Alexandria immer noch nach dem Rebellen Dionysios Petosarapis suchten und eine hohe Belohnung dem versprochen hatten, der ihn seinen Verfolgern lebend auslieferte. Zu spät ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass der habgierige Mithradates danach streben könnte, sich selbst die Belohnung zu sichern. Was sprach dagegen? Wie hatte er nur so töricht sein können, gerade in das abgelegene Königreich am nördlichen Meer zu flüchten? Aber wohin hätte er sich sonst wenden können? Den Seleukidenkönigen war noch weniger zu trauen, waren sie doch neuerdings bemüht, sich bei ihren alten Feinden in Alexandria anzubiedern. Dazu war die Auslieferung eines verhassten Aufrührers ein geeignetes Mittel. Ähnliches galt für die meisten griechischen Städte, die sich gut mit Philometor und Kleopatra stellen wollten. Am besten wäre es wohl gewesen, weiter zu ziehen, vielleicht in die nördlichen Steppen zu den wilden Skythen? Aber was würde ihn dort erwarten? Und er fühlte sich auch zu müde, um sich immer zu verstecken und zu fliehen.
„Sprich Fremder, wer bist Du?“, hörte er die Stimme des Würdenträgers, der ihn hereingeführt hatte. „Woher kommst Du? Wem hast Du gedient? Wer war Dein Vater? Welche Götter verehrst Du? Warum bist Du an unseren Hof gekommen? Bist Du gekommen, weil Du wolltest oder weil Du musstest? Hast Du ein Verbrechen begangen, wegen dem man Dich sucht? Beantworte all diese Fragen, füge nichts Unwahres hinzu und verschweige nichts Wahres! Und denke daran: Wer versucht, den großen Herrn Mithradates Philopator zu belügen, wird den Palast im besten Falle schwer verstümmelt verlassen, auf dass jeder erkennt: Der dort hat gefrevelt, indem er unserem Herrn belügen wollte. Denn wisse: Unserem Herrn bleibt nichts verborgen! Nun sprich!“
„Mein Name ist Dionysios …“
„Gebt dem Mann einen Stuhl, damit er sich setzen kann! Auf dem Boden liegend spricht es sich schwer. Und mir fällt es schwer, ihn zu verstehen!“, wies der König seine Diener mit leiser Stimme an. Dann wandte er sich an den Bittsteller. „Setz dich und sprich! Du musst keine Angst haben. Wer mit reinem Herzen und guten Absichten kommt, hat nichts zu befürchten.“
Zögernd setzte sich Dionysios auf die sogleich hergeschaffte Sitzgelegenheit. Obwohl in Kreon angewiesen hatte, dem König keinesfalls ins Gesicht zu schauen, riskierte er einen kurzen Blick.
Auf dem Thron saß ein eher schmächtiger Mann, etwa in seinem Alter. Er war in einen schlichten weißen Umhang gekleidet und trug – außer einem Diadem – keinen weiteren Schmuck. Sein Gesicht war ebenmäßig, weder hager noch aufgeschwemmt und die Augen blickten starr geradeaus. „Wie ein Puppe“, dachte Dionysios, „einer, der König ist und es eigentlich nicht sein will, der wahrscheinlich lieber über Büchern sitzt als auf dem Thron oder auf einem Pferdesattel. Aber ich …“
„Nun sprich!“, forderte ihn der König auf, und zur Erleichterung von Dionysios klang die Stimme von nicht unfreundlich. „Beantworte die Fragen, die man Dir gestellt hat, wahrheitsgemäß. Dein Name ist also Dionysios. Woher kommst Du?“
„Ich komme aus Alexandria. Von dort bin ich geflohen. Auf dem Weg zu Euch bin ich durch Koelesyrien und das Land der Judäer gezogen. Ich war im Reich von Antiochos und bin dann, weil dort wieder Krieg war, weiter nach Kappadokien gewandert. Dort habe ich mich Kaufleuten angeschlossen, die mich nach Sinope mitgenommen haben. Von dort aus wollte ich …“
„Warum musstest Du aus Ägypten fliehen? Welche Untat legt man Dir zur Last?“
„Die schlimmste Untat, die man sich vorstellen kann. Ich habe die Rebellion gegen die Könige angeführt.“
„Und da wagst Du Dich hierher?“, fragte Mithradates. „Weißt Du nicht, dass alle Könige – auch wenn sie gegeneinander Krieg führen – Brüder sind, die sich gegen rebellische Untertanen helfen? Ich müsste Dich als Rebellen und Verrätern ausliefern.“
„Das ist mir sehr wohl bekannt. Aber mir ist auch bekannt, dass Ihr ein kluger und gerechter Herr seid, der nichts tut, ohne vorher das Für und Wider sorgsam abgewogen zu haben, und der bei allen seinen Handlungen den Vorteil für sein Reich und sich erkennt.“
„Und Du meinst, dass ich einen Vorteil davon habe, wenn ich meine brüderliche Pflicht gegenüber Ptolemaios Philometor und Kleopatra versäume?“
„Das meine ich wohl. Ich bitte Euch nur, mich anzuhören, bevor Ihr eine Entscheidung trefft.“
„So soll es sein. Also sprich!“, forderte ihn der König auf.
„Es ist richtig, dass ich versucht habe, die Macht in Ägypten und Alexandria zu ergreifen. Bemerkt die Reihenfolge: Ägypten und Alexandria, nicht umgekehrt, wie es die makedonischen und griechischen Herren sehen, die den größten Teil ihrer Untertanen verachten. Schon seit langer Zeit gibt es im Herrschaftsgebiet der Könige aus dem Haus Lagos heftige Unruhen, die nur für kurze Zeit unterdrückt werden konnten. Ist irgendwo einmal Ruhe eingekehrt, bricht an einer anderen Stelle erneut ein Aufstand aus. Kein guter Regent wird sich mit so etwas abfinden, aber Ptolemaios Philometor und Kleopatra bedrückt dies ebenso wenig, wie es ihre Vorgänger gestört hat, denn sie sind überzeugt von der Stärke und Überlegenheit ihrer Söldner und Waffen. Sie nutzen ihren Reichtum und ihre Macht – wie die Könige vor ihnen – allein zu ihrer Bereicherung und zu der ihrer Anhänger – und sie sind blind für die Gefahren, die nicht nur ihrem Land, sondern auch allen anderen Ländern, in den noch freien griechischen Städten und vielleicht eines Tages sogar Eurem Reich drohen.“
„Was meinst Du damit?“, fragte Mithradates sichtlich beunruhigt.
„Die Römer. Sie haben Hannibal besiegt und werden bald den Rest des einst mächtigen Karthago unterwerfen. Und sie haben den großen Antiochos in seine Schranken verwiesen. Nur Narren können sich darüber freuen, dass sie diesen gierigen König gezüchtigt haben, ist doch seine Herrschaft weniger drückend und dauerhaft, als es die dieses kriegerischen Volkes aus dem Westen sein wird. Was sie einmal bezwungen haben, geben sie nie wieder frei. Wie gut hätte es Ptolemaios und Kleopatra angestanden, sich mit Antiochos zu verständigen, aber sie und ihre Ratgeber hatten nichts Besseres zu tun, als die Römer um Hilfe zu bitten, die diesem Ersuchen nur zu gerne nachgekommen sind. Damit hatten sie ihren Fuß in der Tür, treten bald als Schiedsrichter und Vermittler und bald als Eroberer auf. Schon verfügen sie über sichere Häfen in Ägypten und Koelesyrien, aus denen bald Stützpunkte werden, um von dort aus das Land rings umher zu erobern, wenn sie es nicht vorher schon durch List und Tücke gewonnen haben. Solange sie nicht ein Mächtigerer in ihre Schranken weist, werden sie fortfahren, alles zu unterwerfen, was vor ihren Stiefeln liegt. Warum sollten sie vor Eurem Besitz haltmachen? Euer Land ist wohlhabend und gut geordnet, Eure Schatzkammer ist gefüllt, und die Männer, die jetzt Euch gehorchen, werden dann als Hilfstruppen ihrer Legionen eingesetzt. Ich glaube nicht, dass Euch das gefällt.“
„Woher willst Du das wissen?“, fragte der König. „Immerhin haben wir mit Ihnen einen Beistands- und Freundschaftsvertrag geschlossen, in dem sie unseren Besitz und sogar unsere weitergehenden Ansprüche anerkannt haben.“
„Ihr solltet diesen Leuten nicht vertrauen. Sie schließen Verträge, wenn es zu ihrem Vorteil ist, und brechen sie, sobald es ihnen nützt. Vorwände für ihre Untreue finden sie immer. Und sie säen Unruhe, indem sie – wenn es ihnen gelegen kommt – Vasallen und Untertanen mit Drohungen, Gerüchten und falschen Behauptungen zur Rebellion anstiften.“
Der König zögerte einige Augenblicke, bevor er antwortete: „Du magst Recht haben, was die Einschätzung der Republik und ihrer Absichten betrifft. Auch wir glauben ihnen nicht alles. Aber es scheint so, dass ihnen auf Dauer niemand mehr widerstehen kann. Ist es da nicht besser, wenn wir uns – wie Antiochos, Philometor und viele griechische Städte – ihnen fügen?“
Jetzt mischte sich auch Kreon ein: „So denke ich auch. Als ihre Bundesgenossen werden sie uns besser behandeln als diejenigen, die sich ihnen widersetzt haben.“
Dionysios nahm seinen ganzen Mut zusammen: „Erlaubt mir, dass ich, ein flüchtender Rebell, Euch widerspreche. Die Erfahrung zeigt, dass alle Sieger – und insbesondere die Römer – durch ihre Erfolge anmaßend und überheblich werden. Denkt daran, wie ihr Gesandter einst Antiochos gedemütigt hat. Zum einen werden sie laufend das Ausmaß der Verpflichtungen erhöhen, die die Bundesgenossen eingegangen sind, und zum anderen werden sie sich immer mehr in die Angelegenheiten Eures Reiches einmischen. Sie werden mitreden wollen, mit wem ihr Verträge schließt, wen Eure Töchter heiraten und sie werden von Euch verlangen, dass Ihr einen Eurer Söhne nach Rom schickt, wo er als Geisel für Euer zukünftiges Wohlverhalten dient, und vieles mehr, was Euch kränkt und belastet – und sie, die ewig kriegslüsternen, werden Euch in Kämpfe verwickeln, die Euch nichts einbringen – und vielleicht sogar schaden können. So ist es bisher allen geschehen, die sich zu sehr mit ihnen …“
„Du sprichst kühne Worte, Fremder!“, unterbrach ihn Kreon sichtlich verärgert. Wir wissen …“
Der König gebot ihm Einhalt: „Lass ihn reden! Wie Du weißt, denke auch ich, dass wir der Republik gegenüber achtsam sein müssen. Mir war Antiochos an unserer Grenze immer noch lieber als diese Barbaren im Westen und mit Demetrios – so sehr ich ihn auch wegen der Ermordung seines Vetters verabscheue – sollten wir uns verständigen. Ich befürchte, dass er – erschreckt durch die Art und Weise, wie sie mit seinem Vater umgegangen sind – ihnen zu bereitwillig nachgibt.“ Er wandte sich an Dionysios: „Also weiter: wenn Du an meiner Stelle wärst: Wie würdest du dich verhalten?“
Ungeachtet seiner Genugtuung über die wohlwollende Aufmerksamkeit von Mithradates vergaß Dionysios nicht seine Vorsicht. Indem er sich zu eindeutig auf die Seite des Königs stellte, würde er sich möglicherweise dessen Berater Kreon zum Feind machen. Das wollte er auf keinen Fall riskieren – zumindest nicht so lange, bis er dessen Einfluss genauer abschätzen konnte. So gab er sich zunächst verwirrt und überrascht: „Es fällt mir schwer, mich auch nur in Gedanken an Eure Stelle zu versetzen, da Ihr über ein Mehrfaches …“