Rezension
Das von der aus Sevilla stammenden und seit 1980 in Deutschland lebenden promovierten Musikwissenschaftlerin, Kunsthistorikerin, Künstlerin, Cembalistin und Schriftstellerin Dr. Esther Morales Cañadas vorgelegte Buch besticht bereits auf den ersten Blick durch die zahlreichen originellen und liebevoll gestalteten Illustrationen der Autorin. Eine gewisse Schwermut, die bei vielen Bildern erkennbar ist, lässt zu Recht vermuten, dass es sich bei den allegorischen Erzaehlungen nicht um unterhaltsame und spannende Kurzgeschichten handelt, sondern um sehr tiefgründige Betrachtungen, oft traurig und melancholisch, aber vielfach auch mit aufklärenden und manchmal auch tröstenden Ausblicken.
Die sechzehn kürzeren und längeren Beiträge beruhen auf wahren und teilweise auch schmerzlichen persönlichen Erfahrungen.
Wie die Autorin im Vorwort schreibt, hat ihr die literarische Bearbeitung der Begebenheiten geholfen, die damit verbundenen Leiden zu mindern und zur Regeneration einer verwundeten empfindsamen Seele beizutragen.
Der besondere Wert der Sammlung besteht in der Verwendung von Allegorien, also in der Darstellung bzw. Übersetzung abstrakter Begriffe durch Personifikationen, was in manchen ähnlichen Vorhaben eher konventionell oder sogar klischeehaft (zum Beispiel ‚Liebe’ als Engel oder Herz, oder ‚Tod’ als Skelett mit Sense) geschieht, hier jedoch subtiler, individueller, komplexer und tiefgründiger erfolgt. So erscheint Gefühltes und Gedachtes, etwa die Einsamkeit (spanisch: Soledad) als schöne Frau oder die Liebe zur Mutter und Familie als Wasser.
Das in der gängigen Sprache nur schwer oder kaum Vermittelbare wird bei einer Allegorie in ein Bild übertragen, dessen Sinn sich intuitiv durch Einfühlen und Nachfühlen erschließt oder – mit den Worten der Autorin: „(Die Allegorie) ist ein kognitives Instrument, welches die abstrakten Ideen der eigenen Gefühle verbildlicht und dadurch fassbar macht“. Die auf diese Weise entstandenen ‚bildlichen Reden’ ermöglichen also einen besseren und unmittelbareren Zugang.
Die Erzaehlungen verteilen sich auf sechs Abschnitte. Der erste ‚Die Erschaffung des Menschen’ stellt eine originelle Variante der Schöpfungsgeschichte dar: Gott, der – im Gegensatz zu Genesis 2, 18-24 – zunächst Eva erschaffen hat, erfährt in der Auseinandersetzung mit ihr die Unzulänglichkeiten seines Werkes und insbesondere die Vernachlässigung ihrer Bedürfnisse (bzw. die von Frauen generell). Als Abhilfe stellt er ihr den Adam zur Seite, der sich aber als stumpfes und liebesunfähiges Wesen erweist und an der Welt, wie wir sie heute kennen (und damit am Verderben der Schöpfung), wesentlichen Anteil hat. Daraus folgt das ernüchternde Fazit „Wenn Gott auch eine schöne Welt und menschliche Wesen nach seinem Bilde erschaffen wollte, was für seine selbstlose Liebe spricht, so hat er doch nicht die Macht dieser Wesen kontrolliert, und sie sind ihm entglitten und letztendlich mächtiger als seine Heiligkeit geworden.“
Die weiteren Abschnitte des Buches tragen die Titel ‚Vom Entstehen und Überleben’, ‚Über die menschliche Liebe und ihre Konsequenzen oder ihr ‘Leben’’, ‚Über andere Angelegenheiten’, ‚Antwort auf eine Frage’ und ‚Schlussgebet’. Es fällt schwer, einzelne Geschichten besonders hervorzuheben, doch haben mich neben der ‚Erschaffung des Menschen’ die Erzaehlungen ‚Das Wesen, welches das Wasser hasste’, ‚Die kurze Reise’, ‚Mein Leben mit Soledad’, ‚Die kurze Liebesgeschichte des DU und Ich’, ‚Der Bau eines Tempels oder die Rückkehr der Blaumeisen’ und ‚Der Wanderer, der Mann und der Eisbär/Allegorie des Verlangens nach Glück’ am meisten berührt. Die nicht immer gleich und mühelos, dafür aber um so nachhaltiger zu erfassenden Aussagen und Anliegen lassen – neben den verklausulierten und allegorischen Schilderungen schmerzlicher Erfahrungen – ein großes Maß an Menschlichkeit, Aufrichtigkeit, Liebe, Reife und Weisheit erkennen. Sie zeigen, dass leidvolle Erfahrungen nicht zwingend zu Resignation und Verbitterung führen müssen, sondern sowohl zur eigenen Freiheit beitragen als auch zu einem umfassenderen Verständnis von Liebe einschließlich der Akzeptanz und Liebe zu sich selbst gelangen lassen. Die Inhalte hier anzudeuten oder auch kurz wiederzugeben, würde ihnen nicht gerecht werden, denn die Erzaehlungen verdanken ihren Wert und Reiz vor allem der besonderen Darstellungsweise und Sprache der Autorin.
Für Leser, die vorhandene Spanischkenntnisse auffrischen oder verbessern wollen, ergibt sich durch die Zweisprachigkeit noch ein zusätzlicher Wert. Ein Wermutstropfen dabei ist allerdings, dass die spanische Fassung sämtlicher Erzaehlungen der deutschen Fassung insgesamt folgt, anstatt dass bei jeder Erzählung der deutschen jeweils die entsprechende spanische Seite gegenüberliegt. Diese drucktechnisch (und damit kostenmäßig) nachvollziehbare Einschränkung der Praktikabilität für Sprachinteressierte tut dem Gesamtwerk jedoch keinen Abbruch. Als Fazit bleibt, dass es sich bei den ‚Seltsamen und allegorischen Erzaehlungen’ um ein irgendwie trauriges, aber vor allem auch weises und liebenswertes Buch für nachdenkliche und empfindsame Menschen handelt, dessen Wert sich bei jedem Lesen aufs Neue erschließt.
Dr. Walter Kiefl