Leseprobe
Der Glücksbringer
Die Tage wurden länger und die Frühlingssonne erwärmte die Stadt. Die Winterstiefel hatte sie längst gegen Halbschuhe eingetauscht. Nach einem längeren Spaziergang war es ihr sehr warm geworden.
Nach Hause zurückgekehrt warf sie einen Blick in den Schuhschrank. An sommerlichem Schuhwerk befanden sich zwei Paar Sandalen darin, ein Paar unbrauchbar mit zerrissenen Riemchen, ein anderes könnte sie, nach gründlicher Überarbeitung von einem Schuster, noch einen Sommer tragen - aber eigentlich brauchte sie neue.
Auf dem Heimweg von der Arbeit fiel ihr am nächsten Tag ein Plakat auf, das für das kommende Wochenende einen Trödelmarkt ankündigte.
Am Sonnabend schreckte sie um 10.00 Uhr in ihrem Bett hoch. Sie wollte doch auf den Trödelmarkt gehen. Flohmärkte liebte sie. Manch nützliches Stück oder antikes Kleinod hatte sie dort schon gefunden.
Also, schnell unter die Dusche, in die Sachen geschlüpft, ein paar Mal in ein Brötchen gebissen und auf zum Flohmarkt!
Sie schlenderte durch die Reihen der Stände, nahm dies in die Hand, fragte nach dem Preis einer Kristallvase, begutachtete ein paar Silberlöffel, konnte sich aber nicht entscheiden. Sie konnte ja auch eigentlich nichts kaufen, denn sie musste mit dem noch vorhandenen Geld mindestens eine weitere Woche leben. Am Ende einer Reihe von Ständen saß eine alte Frau auf einer bunt bestickten Decke. Die Alte zog an einer Wasserpfeife und blinzelte ihr zu. Sie hatte südländische Züge und eine braune, faltige Haut an Gesicht und Händen. Um sich herum hatte sie eine Menge Schuhwerk ausgebreitet.
„Die Dame braucht bestimmt ein paar hübsche Sommersandalen“, sagte sie mit einem Blick auf ihre stabilen Halbschuhe.
„Hier habe ich etwas für Sie!“
Sie griff in den Schuhberg und zog ein leichtes Paar heraus, deren hellbraunes Riemchen fast golden in der Sonne glänzte. Magisch zog sie das Schillern an und ehe sie sich versah, hatte sie die Sandalen anprobiert. Es geschah wie von selbst.
„Für fünf Euro gehören sie Ihnen, es sind ganz besondere Schuhe. Sie werden Sie auf den Weg des Glücks führen“, prophezeite die Alte überschwänglich und hielt die Hand auf.
Sehr viele Münzen hatte die Käuferin nicht in ihrer Geldbörse.
Sie handelte: „Vier Euro geb´ ich dir“.
Die Schuhverkäuferin zögerte: „4,50 Euro“, und dabei blieb es.
„Viel Glück!“, rief ihr die Alte hinterher.
Sie ging, die Sandalen unterm Arm, nach Hause. Später unternahm sie einen Spaziergang, um die neu erstandenen Sandalen auszuprobieren.
Forsch schritt sie in dem sehr bequemen Schuhwerk den Weg zu der Anhöhe hinauf, von der aus man den Blick auf die blühende Landschaft genießen kann.
An einer Weggabelung, als der Anstieg steiler wurde, den sie gehen wollte, zog es sie wie mit magischen Kräften in die andere Richtung.
Der Weg führte leicht abwärts in ein weit ausgebreitetes Tal. Die Auenlandschaft duftete nach frischem Grün und zahlreiche Wiesenblumen wiegten sich im sanften Wind. Hier leuchteten die weißen Dolden des Holunders, dort rosa Heckenrosen am Wegrand. Auf einem weichen Grasteppich schritt sie leichtfüßig mit ihren „neuen“ Sandalen durch den Frühlingstag. Vom Duft der zahlreichen Blüten betäubt, setzte sie sich an den Wiesenrand und genoss die üppige Natur.
In der Nähe eines Holunderbusches fiel ihr eine kleine Blume auf. Mit ihren leuchtend gelben Blütenblättern zog sie die Blicke auf sich.
Rings um die Blume wuchs kein Gras. Es befand sich dort nur lockeres Erdreich. Man konnte meinen, ein Gärtner habe das Blümchen in diese Landschaft gesetzt. Sicher hatte aber die Natur diese Besonderheit hervorgebracht.
Beim Betrachten der Blume erfüllte sie ein angenehm, entspanntes Gefühl. Sie genoss diese beglückende Empfindung und erhob sich erst wieder von dem Platz, als die Blume vom Schatten des Holunderstrauches bedeckt wurde. „Tschüs, kleine Blume, bis bald!“ Noch beim Einschlafen an diesem Abend sah sie die kleine gelbe Blume im Sonnenschein flirren und schloss sie zärtlich in ihre letzten Gedanken ein.