Leseprobe
Gute Fee, dunkle Fee
Schweißgebadet wachte sie auf. Die Angst schlang kalte Klauen um ihr junges Herz. Wieder war die dunkle Gestalt zu ihr gekommen. Näher als zuvor. Sie spürte es. Wusste, bald würde sie sich nicht mehr aus dem Traum retten können.
Vor einigen Jahren, kurz bevor sie im Alter von sechs Jahren eingeschult werden sollte, hatte sie sich eine heftige Infektion zugezogen. Fieber, Gliederschmerzen, Übelkeit, Kopfschmerzen. Wochenlang war sie krank gewesen. Hatte ihre Einschulung verpasst, auf die sie sich so sehr gefreut hatte. Die Ärzte waren ratlos gewesen. Keine Therapie, kein Medikament hatte auch nur ansatzweise Besserung gebracht. Sie hatte schließlich das Gefühl, die Schmerzen, die Übelkeit und die Müdigkeit nicht mehr aushalten zu können. Sie hatte sich nur noch gewünscht zu sterben, um ihrer Qual zu entgehen.
Doch genau in der Nacht, in der sie erstmals mit diesem Wunsch eingeschlafen war, erschien ihr im Traum eine Fee. Eine wunderschöne Frau, ganz in Weiß gekleidet, mit langen blonden Haaren. Sie setzte sich ans Bett des fiebernden Mädchens und strich ihm mit ihrer kühlen Hand über die glühend heiße Stirn. Die andere Hand legte sie auf den Arm der Kranken, drückte ihn leicht und sagte dann mit sanfter Stimme: »Mein liebes Kind, ich weiß, wie schlecht es dir geht. Deshalb kann ich deinen Wunsch verstehen. Auch wenn ich ihn für Frevel halte. Aber glaube mir, Besserung ist in Sicht. Bald wirst du wieder gesund werden. Und sei gewiss, ich werde über dich wachen. Wenn du Hilfe brauchst, werde ich für dich da sein. Immer. Habe Vertrauen!« Sie drückte noch einmal leicht den Arm des Mädchens, strich erneut über die fieberheiße Stirn und trat dann langsam zurück. Mit jedem Schritt, den sie sich vom Bett des Mädchens entfernte, wurde sie durchscheinender, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war.
In dieser Nacht schlief die Kranke zum ersten Mal seit Langem tief und fest. Wachte nicht von Schmerzen gepeinigt auf, um stundenlang wach zu liegen und erst wieder schlafen zu können, wenn die Erschöpfung sie übermannte. Und die Vorhersage der Fee bewahrheitete sich. In den nächsten Tagen ließ das Fieber langsam nach. Mit dem Fieber wurden auch die Schmerzen geringer und der Zustand des Mädchens besserte sich. Es dauerte trotz allem noch einige Monate, bis sie völlig wiederhergestellt war. Aber als im nächsten Jahr endlich ihre Einschulung erfolgte und sie in der Klasse schnell neue Freundinnen fand, begann die Erinnerung an die schlimmen Wochen ihrer Krankheit nach und nach zu verblassen. Sie hatte niemandem von ihrem Traum, von der Fee, die ihr erschienen war, berichtet. Aber in ihrem Herzen hatte sich der Satz eingebrannt: »Wenn Du Hilfe brauchst, werde ich für Dich da sein!« Sie wusste, dies würde sie nie mehr vergessen. Gleichgültig, wie alt sie werden sollte oder wohin das Schicksal sie verschlagen würde.
Und nun war sie unvermittelt in eine Lebenskrise geraten, aus der sie allein keinen Ausweg fand. Die sie wieder krank zu machen drohte. In der wohl nur die Fee helfen konnte.
Sie hatte sich schon seit etlichen Monaten unwohl gefühlt. Hatte eine nie gekannte Unsicherheit verspürt. Irgendetwas war nicht im Lot gewesen. Und dann – an ihrem 16. Geburtstag – offenbarten ihr ihre Eltern, dass sie nicht ihr leibliches Kind sei. Als Säugling, direkt nach der Geburt, war sie von ihnen adoptiert worden. Eine Welt brach für sie zusammen!
Nach Überwindung des ersten Schocks fragte sie, was denn mit ihren leiblichen Eltern sei. Daraufhin berichteten ihre Adoptiveltern was sie wussten:
Zwei sehr junge Menschen, beide vor einer Ausbildung stehend, fühlten sich zu jung, um die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Eine Abtreibung kam jedoch nicht infrage, außerdem war es zu spät dafür gewesen. Also hatten die beiden jungen Leute gemeinsam mit ihren Eltern beschlossen, das Baby direkt nach der Geburt zur Adoption freizugeben.
Ihre jetzigen Eltern versicherten ihr immer wieder, sie mindestens ebenso sehr, wenn nicht sogar mehr als ein leibliches Kind zu lieben. Ja, dies glaubte das Mädchen ihnen natürlich. Auch sie liebte ihre Adoptiveltern nach wie vor. Schließlich hatten sie alles für sie getan und waren immer für sie da gewesen. Daran würde sich auch nichts ändern.
Und trotzdem war plötzlich alles so anders.