Leseprobe
Seite 17 bis 19
… Der geheimnisvolle See lag mehrere Stunden Fußmarsch von ihrem Dorf entfernt. Auf dem Weg dorthin hatten sie wenig gesprochen. Kalter Wind war ihnen erbarmungslos in die Falten der Umhänge gefahren und hatte die beiden Wanderer zügig voranschreiten lassen. Schnee lag noch nicht und so waren sie, trotz Kälte, gut vorangekommen.
Am Ufer des Sees angekommen, blickte Luana in eine dichte, undurchdringlich scheinende Nebelwand. Die Größe des Sees konnte das Mädchen nicht ausmachen. Es war weit und breit kein Boot zu sehen – aber irgendwo musste eines sein. Inara hatte schon oft davon gesprochen, dass sie mit der Barke Avalons über das Wasser fuhr. Aber selbst, wenn sie jetzt ein Boot hätten – wie sollten sie bei solch einem Wetter bloß die kleine Insel finden? Würden sie sich nicht verirren oder womöglich im Kreis fahren? Auch die Geschichten von Menschen, die nur die andere Insel erreichen konnten, kam Luana in den Sinn. Sie wollte schon nachfragen, da bemerkte sie, wie Inara langsam und konzentriert die Arme zum Himmel hob und ein paar Worte murmelte. Als die Priesterin die Arme wieder sinken ließ, glitt die kleine Barke aus dem Nebel heraus ans Ufer. Kleine, unscheinbare Männer mit dunkler olivfarbener Haut und langen schwarzen Haaren führten die Ruder. Ihre Arme waren mit blauen Tätowierungen verziert und sie trugen erdfarbene einfache Gewänder. Die Männer sprachen kein Wort, halfen aber der Priesterin und Luana ehrerbietig ins Boot. Das Mädchen kauerte sich auf eine kleine Sitzbank in der Mitte des Bootes, während Inara im Bug Platz genommen hatte. Mit kräftigen Ruderschlägen entfernten sie sich nun rasch vom Ufer. Die Männer tauchen die Ruder so geschickt ins Wasser, dass fast kein Geräusch dabei entstand.
Nur ein leises Gluckern war zu vernehmen, welches die junge Reisende nun aus den Gedanken an Zuhause riss.
Das Boot fuhr immer weiter auf den See hinaus. Avalon jedoch war nicht zu sehen. Luana fand das merkwürdig. Hatten nicht die Leute und auch Inara immer gesagt, Avalon wäre eine Insel mitten im See? Wo war diese geheimnisvolle Insel denn nun? Sie fröstelte.
Auch von einer zweiten Insel, die an derselben Stelle wie Avalon liegen sollte, hatte sie gehört. Auch diese war nicht zu sehen und Luana glaubte, es gäbe sie vielleicht auch gar nicht. Wie sollten zwei verschiedene Inseln an ein und derselben Stelle liegen?
Nachdem das kleine Boot das Ufer weit hinter sich gelassen hatte, stand die Priesterin wieder von ihrem Sitz auf, drehte sich in Fahrtrichtung, hob die Arme und sprach abermals einige fremde Worte. Danach blickte sie unverwandt auf den See hinaus, als wenn sie das Ziel ihrer Reise nicht aus den Augen lassen wollte. Luana spürte ein ungewohntes Kribbeln den Rücken rauf- und runterfahren, es fühlte sich unheimlich an. Dann bemerkte sie, dass sich etwas verändert hatte. Der Nebel war dichter geworden, aber heller. Die Kälte war noch da, aber nicht mehr so beißend. Aufmerksam beobachtete sie ihre Begleiterin. Die Priesterin sah mit einem Mal so jung und kräftig aus, ganz anders, als noch vor wenigen Augenblicken.
Endlich konnte man schemenhaft eine Insel erkennen. Sie tauchte plötzlich vor ihren Blicken auf. Als sie näher kamen, konnte Luana die sanften grünen Hügel erkennen, die sich um einen hohen Berg nach allen Seiten über das ganze Land bis zum Horizont zogen. Zwischen dem mächtigen Berg und dem Ufer des Sees lag eine Siedlung von etwa zwei Dutzend kleineren und einer Handvoll größerer Gebäude. Überall verteilt standen Obstbäume – Luana konnte sie noch nicht genau erkennen. Waren es Apfelbäume? War das nun Avalon – oder die Insel der Mönche? Inara spürte Luanas Unsicherheit und flüsterte, als ob sie Gedanken lesen könnte:
„Das ist Avalon – die heilige Insel der Großen Mutter, der Urmutter aller Menschen und aller anderen Geschöpfe. Sie ist auch die Mutter der Erde, des Mondes, der Sonne und allem, was ist. Hier kannst du ihr nahe sein und ihre Stimme besonders klar und intensiv hören.“
Luana war mächtig beeindruckt, wunderte sich aber insgeheim darüber, dass sie die Insel nicht gesehen hatte, obwohl sie doch so groß war. Sollte das nur am Nebel gelegen haben?
Am Ufer angelangt, wuchs ihr Erstaunen weiter, denn es schien sogar die Sonne durch den immer lichter werdenden Nebel. Die Insel wirkte wie in goldenes Licht getaucht. Auch war es deutlich wärmer als am jenseitigen Ufer. Hier schien es, als wäre es gerade Herbstanfang. Konnte das sein? …
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… Nun betraten die beiden Besucherinnen einen kleinen dämmerigen Raum. Im Kamin brannte ein leise vor sich hinknisterndes Feuer und verbreitete wohlige Wärme. Luanas Herz vibrierte leicht, als sie in der Nähe des Fensters eine kleine Gestalt wahrnahm. Sie saß auf einem Schemel und sah hinaus in die Dunkelheit. Ohne sich umzudrehen, murmelte sie:
„Was die Sterne uns zeigen, ist eine uralte Botschaft. Ein ewiger Kreis von Werden und Vergehen. Nun wird er sich bald erneut schließen!“ Nach diesen seltsamen Worten wandte sie sich um und begrüßte die neu Angekommenen. „Die Göttin möge bei euch sein auf allen euren Wegen!“ Ihre Stimme hatte einen angenehmen warmen Klang. Ähnlich wie bei Morrígu. Sie aber sprach langsam und bedächtig, was sie von dieser unterschied. Würdevoll erhob sie sich jetzt und kam auf ihre Gäste zu. Das musste Vivienne sein! Luana war sich sicher! Allerdings bemerkte sie erstaunt, dass die Herrin viel kleiner zu sein schien, als sie es sich vorgestellt hatte. Ja, sie war sogar nur so groß wie sie selbst. Das Mädchen spürte die wachsamen Augen der Herrin auf sich ruhen und senkte voller Ehrfurcht den Blick. …