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Bist auch du so?
Bös – Artigkeiten

Autor:
Creativo Initiativgruppe für Literatur, Wissenschaft und Kunst
Verlag:
Fabuloso Verlag, Bilshausen
Erscheinungsjahr:
2012
Sonstiges:

152 Seiten
Preis 10,00 Euro
ISBN 978-3-935912-70-9

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Leseprobe
Erwachen von Sybille Labischinski Sie lag im Bett mit rotem Gesicht. Ihre Glieder zuckten, sie schlug um sich, stöhnte. Die Hand fiel gegen die Wand. Sie wachte nicht auf, sie war sehr weit fort. Sie lief durch ein Spalier von Menschen, die nach ihr schlugen und sie mit Steinen bewarfen. Aber noch schmerzhafter waren die Verhöhnungen, die ihr Inneres trafen. Sie war schutzlos den Menschen ausgeliefert. Was war geschehen, wer war sie? Sie wusste nicht, was sie getan haben sollte! Was rechtfertigte diese Strafe, diese Verachtung? Sie fühlte eine unbändige Wut, einen furchtbaren Hass, der sich nicht unterdrücken ließ. Gegen diese Leute, gegen alle. Sie würde sie töten, wenn sie könnte! Hatte sie schon einmal getötet? Plötzlich war die Szene mit ihrer Freundin wieder vor ihr: Hand in Hand gingen sie eine heiße staubige Landstraße entlang. Die Hitze flimmerte über dem Asphalt. Sie stöhnte und ließ die Freundin los. „Du schwitzt, ich mag dich nicht mehr anfassen!“ Sie sah das Mädchen an: Die strähnigen blonden Haare umrahmten ein blasses Gesicht, von der Sonne hochrot angelaufen und etwas dicklich und schwammig wie auch die Figur. Auf einmal konnte sie die Freundin nicht mehr leiden. „Wie fett du bist“, sagte sie mitleidlos, „du bist wirklich häss-lich, einfach widerlich!“ Fassungslos starrte das Mädchen sie an, dann hob es den kräftigen Arm und schlug zu. Der grobe Schlag traf sie nicht überraschend, trotzdem taumelte sie unter seiner Wucht, wirbelte herum, riss die Freundin zu Boden und nahm den Kopf, diesen hässlichen, schweißnassen Kopf, in ihre Hände. Und dann schlug sie ihn gegen einen Feldstein, wieder und wieder … Sie ließ den leblosen Körper liegen und setzte ihren Weg fort, bis sie an einen Bach kam. Tat das gut, die Beine in das eisige Wasser zu stecken! Voller Wonne bespritzte sie Gesicht und Körper mit dem klaren Nass. Dann sah sie ihr Spiegelbild im Wasser. Nicht ihr Gesicht war es, das sie angrinste, es war ein wahnsinniges: das Antlitz einer Mörderin. Sie rutschte aus und fiel ins Wasser, rappelte sich auf, sprang heraus, rannte über die Wiese, lief und lief – hinein in die Hände der grölenden Meute. „Mörderin, Mörderin!“, hallte es in ihren Ohren. Sie war schlecht, das Böse war in ihr. Irgendwann hatte sie die Menge hinter sich gelassen. Sie fiel ins Gras. Ihr Körper wurde geschüttelt und schrie das Unrecht heraus: Sie sollte einem Menschen etwas getan haben? Das war nicht wahr, sie wusste es. So war sie nicht! Es konnte nicht wahr sein! Es war fast dunkel geworden. Von Weitem näherten sich schlurfende Schritte. Und Gesang. So sang man doch nicht! Eine Kolonne von Menschen tauchte aus der Dunkelheit, schwarze Reihen, getrieben von Aufsehern in Uniform und hohen Lederstiefeln. Der erzwungene Gesang verebbte. Sie vernahm ein dumpfes Geräusch, jedes Mal, wenn einer der Gefangenen vom Kolben eines Gewehres getroffen wurde. Sie sah, wie er von gefühllosen Händen an den Wegrand gezerrt wurde, von groben Stiefeln getreten. Und mit Erschrecken sah sie jetzt auch die Kinder. Trotz der Dunkelheit konnte sie die entsetzten Augen erkennen und die Angst in den Gesichtern der Kleinen, die noch auf dem Arm getragen wurden. Wind kam auf. Die Menschen mit den kahlgeschorenen Köpfen erschauerten unter ihren Lumpen. Stumm schlurften sie an ihr vorbei, und doch war das Leid hörbar – sie meinte, die Natur ringsum weinen zu spüren. Die Wärter spürten nichts. Sie prügelten unbarmherzig in die Masse. Sie lachten und rissen ihre Witze. Und jetzt – ihr stockte der Atem – sah sie ihn: Sie erkannte ihren Großvater Daniel. Er sah genau so aus wie auf dem Bild. Das hing im Wohnzimmer der Eltern über dem Bücherschrank. Nur magerer war er und blasser. Aber sie wusste: Er war es. „Großvater!“, rief sie und wollte zu ihm laufen. Aber sie lief durch die Menschen hindurch. Da war nichts, keine Körper, die sie aufgehalten hätten, sie rannte zum Großvater. Dicht neben ihm marschierte sie mit, bis sie an ein Wäldchen kamen. Viele Menschen waren hier, die lange vor ihnen gekommen sein mussten. Mit Schaufeln hatten sie einen riesigen circa zwanzig Meter langen und drei Meter breiten Graben ausheben müssen. Sie wurden gezwungen, sich aufzustellen. Die Uniformierten postierten sich, brachten ihre Gewehre zum Anschlag und drückten ab. Die Menschen fielen direkt in die Grube hinein. Die nächsten mussten sich an ihre Stelle begeben, wurden erschossen, und so fort. Einige versuchten zu fliehen, auch sie wurden erschossen. Manche waren noch nicht tot, als sie in die Grube gestoßen wurden. Viele Tote lagen da unten, sich noch bewegende Leiber, ausgemergelte Jammergestalten, die Hände verkrampft zum Himmel gestreckt. Sie hatte ihren Großvater an der Hand gefasst und wurde mit ihm an den Rand des Massengrabes gezogen. Sie versuchte, ihn wegzuziehen, fort von diesem Ort. Aber es ging nicht. Da war kein Widerstand, keine Materie. Sie hörte den bellenden Befehl, das Klicken der Gewehre, das Pfeifen der Kugeln. Ihr Großvater, den sie eben erst kennengelernt hatte, fiel mit den anderen Ermordeten ins Grab. Aber niemand kümmerte sich um sie. Endlich, am Morgen, blickte sie in das besorgte Gesicht der Mutter. „Mami, ich bin wieder da“, schluchzte sie. Die Mutter streichelte und beruhigte sie: „Du warst sehr krank, mein Kleines, aber nun ist alles wieder gut!“ „Aber ich bin nicht gut, Mami“, weinte sie, „ich bin schlecht, richtig böse. Hier drinnen, weißt du …“ „Was redest du da, mein Engelchen, du und böse! Böse und schlecht sind ganz andere Leute, glaub mir das! Du hast nur schlecht geträumt.“ „Aber Mami, ich habe es erlebt. Und ich habe Großvater gesehen! Ich habe gesehen, wie sie ihn totgeschossen haben. Die waren genau so schlecht wie ich“, klagte sie. „Ich glaube, alle sind so. Aber ich will nicht so sein!“ Ihr ernstes kleines Gesicht ließ erkennen, wie sehr sie eine ehrliche Antwort erhoffte, als sie leise hinzufügte: „Mami, bist du auch so?“
Rezension

Klappentext

Wer kennt sie nicht, die dunklen und abgründigen Seiten in uns Menschen? Sie reichen von der morbiden Faszination der Schaulustigen bis zum tiefsten Grusel des Horrorgenres.
In uns allen stecken dunkle Gedanken, die oft nur vom Verstand und einer anerzogenen Moral beherrscht werden. Wir haben die Fähigkeit unser Tun und Denken als Gut oder Böse zu erkennen und einzuordnen.
Sich dieser oft verwischten Grenze zwischen Licht und Schatten zu nähern – sie aus sicherer Distanz zu betrachten – war die Aufgabe für die vorliegende Anthologie.
Dabei ging es hauptsächlich um die Frage, was ist eigentlich Gut oder Böse? Wann wird die
Zuneigung zur Abneigung, das Helle zum Finsteren und umgekehrt?
Dem Grenzbereich zwischen diesen zwei Seiten haben sich die Autoren in ihren Texten gewidmet. Mal mit bissigem Humor, mal nachdenklich ernst, so vielschichtig wie die Menschen selbst.