Leseprobe
Nur im Vorwärtsgehen gelangt man ans Ende der Reise.
– Weisheit der Ovambo –
Kapitel 3
Ungeduldig auf- und abgehend wartete Heide am Ellerradweg zwischen Brochthausen und Zwinge.
»Mensch Rosi, kannst du nicht einmal pünktlich sein? Du weißt doch, dass ich noch zur Arbeit muss«, schimpfte sie mit Blick zurück zur Dorfstraße. Sie schaute zur Uhr. »Schon fünf nach acht.« Ärgerlich pochte sie mit dem Walking-Stock auf den Boden. Die Sonne, die im Osten über Zwinge in gleißendem Licht strahlte und schon jetzt die Luft zum Flimmern brachte, brannte ihr auf den Rücken. Sie zog das T-Shirt aus und schaute kritisch an sich herunter. »Der Sport-BH reicht. Heute Morgen ist außer uns sicher niemand unterwegs. Mist, die Sonnencreme hab ich vergessen.«, raunte sie. Den Bauch einziehend quetschte sie einen Zipfel vom T-Shirt hinter dem Gurt der Bauchtasche hindurch, sodass es rechts an ihrer Hüfteherunterhing.
In der Nacht hatte es zwar einen kurzen Gewitterschauer gegeben, aber viel war davon nicht mehr zu sehen. Die Wiesen sahen vertrocknet aus. Nur nahe am Ellerbach waren sie noch grün. Das Getreidefeld auf der rechten Seite war schon abgemäht, obwohl doch am Montag erst der Juli begonnen hatte.
Vierzehn Tage früher als üblich, dachte sie gerade, als ein kleiner, quietschgelber Polo von der Straße auf den Radweg einbog und vor ihr auf dem Grasstreifen anhielt.
»Na endlich! Jetzt mach mal Dampf!«, empfing Heide ihre Freundin, die sich mühsam aus dem Wagen schälte.
»Mach du mich nicht auch noch an! Es reicht für heute«, schnauzte Rosi genervt zurück und versuchte ihre Stöcke, die
auf der Rückbank lagen, herauszuziehen. Sie verkanteten sich zwischen Fahrer- und Beifahrersitz. Fluchend riss sie daran.
Heide beobachtete ihre Freundin kopfschüttelnd. »Hey, lass mich mal! Was ist denn los? Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden?« Sie fasste ihre Freundin von hinten und schob sie beiseite.
»Ich hab die Nase so gestrichen voll«, murmelte Rosi den Tränen nahe, wischte über die Augen und lehnte sich schniefend an den Wagen.
Heide bemerkte ihr eigenartig geschwollenes Gesicht. Hatte ihre Freundin geweint? Eine Allergie? Oder…? Sie beugte sich über den Fahrersitz, holte die Stöcke heraus und reichte sie Rosi.
»Na komm, wird schon wieder«, ermunterte sie die Freundin. »Lass uns gehen, dann kannst du reden.«
Sie stapften los, Richtung Hilkerode. Das Stockgeklapper hallte gleichmäßig im Takt durchs Ellertal. Im Rhythmus der Schritte spürte Rosi, wie sie langsam ruhiger wurde.
»Ben hat gezickt und wollte nicht im Kindergarten blei- ben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie furchtbar er geweint hat, als ich ging. Dabei kommt er doch schon nächstes Jahr in die Schule.« Verzweifelt schaute Rosi ihre Freundin an.
»Bestimmt hat er sich schon wieder beruhigt. Du wirst sehen, wenn du ihn heute Mittag abholst, will er gar nicht mit nach Hause«, ermunterte sie Heide.
»Er ist in letzter Zeit so bockig. Aber das ist ja auch kein Wunder…«
Heide nickte. Sie wusste, dass Rosis Mann Hanno um Ostern herum fristlos gekündigt worden war. Man tuschelte im Dorf, dass er der Sekretärin vom Chef anzügliche Bemer- kungen gemacht und ihr leichtfertig einen Klaps aufs Hinter- teil verpasst hatte. Die Frau war stinksauer gewesen, und der Bauunternehmer hatte die Gelegenheit genutzt, um ihn, den Maurer, mitsamt seinem Alkoholproblem loszuwerden.
Im Dorf wusste jeder, dass Hanno öfter mal einen über den Durst trank und in puncto Frauen kein Kostverächter war. Seit einiger Zeit munkelten die Leute sogar, dass er seine Frau und seinen Sohn schlug, wenn er zu viel getrunken hatte. Aber Rosi hatte geschwiegen. Sie liebte Hanno seit der Schulzeit und verzieh ihm, weil er sie, wenn er wieder nüchtern war, mit kleinen Geschenken und einer Menge Zärtlichkeiten über- zeugte. Doch als er heute erst gegen sechs Uhr in der Früh nach Hause gekommen war, hatte sie zum ersten Mal daran gedacht, Hanno zu verlassen. Wo war er in der Nacht gewesen? Gestern Morgen war er mit Olli und Jupp, den anderen beiden Waldarbeitern, zum ›Holzmachen‹ in den Rotenberg gefahren. Zum Glück hatte er diesen Job so schnell bekom- men, weil die Herbststürme im letzten Jahr eine Schneise der Verwüstung im Wald hinterlassen hatten und großer Schaden entstanden war.
Um siebzehn Uhr hatte Rosi ihn zurückerwartet, ihm extra seinen Lieblingskartoffelsalat mit Gurken- und Eiwür- feln zubereitet. Die Bratwürste schmurgelten in der Pfanne. Den appetitanregenden Duft konnte jeder, der draußen auf dem Bürgersteig vorbeiging, schnuppern. Aber Hanno war nicht gekommen. Zuerst hatte sie sich Sorgen gemacht und versucht, ihn per Handy zu erreichen. Negativ. Je später es wurde, umso mehr wuchs in ihr der Gedanke, dass eine andere Frau im Spiel war. Jupp und Olli hätten sich auf jeden Fall bei ihr gemeldet, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Da war sie sich sicher. Nachfragen würde das Gerede nur weiter anheizen. Eine Riesenwut, die sie versuchte zu unterdrücken, staute sich an, brodelte. An Schlaf war nicht zu denken.
Als Hanno dann morgens polternd zur Tür hereinkam, hatte sie ihn mit Vorwürfen bombardiert. Daraufhin hatte er den Spieß umgedreht, sie gepackt und beschimpft, ihr rechts und links eine Ohrfeige verpasst, das Frühstücksgeschirr samt Decke vom Tisch gezogen. Dann war er ins Schlafzimmer gegangen, hatte sich ein frisches T-Shirt angezogen und war wütend aus dem Haus gestürmt. Vom Lärm war Ben wach geworden und hatte dem Geschehen wortlos an der Treppe stehend zugeschaut. In diesem Moment wusste sie nicht, ob sie zuerst die Scherben beseitigen oder ihr Kind in die Arme nehmen sollte. Aber darüber wollte Rosi nicht sprechen. Die Probleme mit Ben konnte sie Heide erzählen, aber ihre Eheprobleme? Nein. Heide würde ihr nur raten, Hanno zu verlas- sen. Die würde sich das nicht gefallen lassen. Das wusste Rosi nur zu gut.
Im Takt der Nordic-Walking-Stöcke marschierten sie zügig weiter, querten bald den Weg, der von der Straße hinauf in den Wald führte. Ein Auto, in eine Staubwolke gehüllt, kam ihnen in hohem Tempo entgegen.
»Idiot! Muss der mit hundert Sachen über den Radweg jagen?«
Die beiden Frauen sprangen ärgerlich schnaubend und hustend zur Seite. Ohne vom Gas zu gehen, rauschte der Wagen vorbei. In der staubigen Luft erkannte Heide nur schemenhaft einen Mann, während Rosi die Hände abwehrend vors Gesicht hielt. War es ein Waldarbeiter gewesen oder jemand vom Jugendwaldlager? Mit quietschenden Reifen bog der Wagen in den Weg, der hoch zum Hüttendorf führt.
»Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!«, ent- rüstete sich Heide. Sie warteten eine Weile, bis sich der Staub verzogen hatte, dann marschierten sie weiter. An der Wüstung Ankerode blieb Rosi stehen.
»Hier, halte mal meine Stöcke.«
»Pipipause? Ach nee.« Heide atmete tief durch und rollte genervt mit den Augen.
»Ja, dort stehen keine Brennnesseln am Rand. Da kann ich mal. Warte, bin gleich wieder da.«
Rosi eilte den trockenen Wiesenweg hinauf zum Stein- kreuz.
»Aber danach geht´s flott weiter, sonst komm ich nicht rechtzeitig zur Arbeit«, rief Heide ihr nach.