Leseprobe
Walter Kiefl
Ein wenig Spaß … (*)
Auch wenn Knaben nur aus Spaß Steine nach Fröschen werfen, sterben die Frösche nicht aus Spaß.
(Plutarch; 46-125; griechischer Schriftsteller und Priester)
Der hühnereigroße Stein flog knapp an ihrem Kopf vorbei und schlug wenige Meter weiter auf. Für den Bruchteil einer Sekunde war das Johlen der Kinder verstummt, um dann aber sogleich wieder und diesmal noch heftiger anzuheben. Trine beschleunigte ihren Schritt, aber sie lief nicht, wusste sie doch nur zu gut, dass das nichts helfen würde. Die Bande war schneller, und wenn sie lief, würden sie auch laufen, bis sie sie eingeholt und überholt hatten, und dann würde es erst richtig losgehen mit dem Geschrei und dem Spott. Natürlich würde sie ihnen nichts schuldig bleiben, aber was konnte sie gegen so viele ausrichten? Lauter waren sie allemal, und sie traute ihnen auch zu, dass sie sie anspucken oder sogar handgreiflich werden könnten. Trines Hoffnung bestand darin, die Dorfstraße zu erreichen, wo um diese Zeit noch Erwachsene unterwegs waren. Deren bloße Anwesenheit mochte die Horde bremsen. Auf ein Eingreifen der volljährigen Unterbacher konnte sie aber nicht zählen. Die Leute im Dorf mochten sie, die arme Zugezogene, nicht und sie mochte die Leute nicht. Das war so, und es tat ihr nicht einmal weh, konnte sie sich doch durch eine boshafte Bemerkung oder eine Verwünschung dafür zu rächen. Irgendwie hatten die anderen – trotz ihrer Abneigung – Angst vor ihr, und dass sie manche für eine Hexe hielten, erfüllte sie sogar mit Stolz.
Obwohl sie allgemein gehasst und verachtet wurde und deshalb selbst hasste und verachtete (das mit der rechten und der linken Wange aus der Bibel hatte ihr nie eingeleuchtet), konnten es die Unterbacher doch wohl nicht zulassen, dass die Dorfjugend in dieser Weise mit ihr umging, denn das würde auf lange Sicht der Autorität der Erwachsenen insgesamt Abbruch tun. Sie fühlte das, obgleich sie diesen Gedanken noch nie klar ausformuliert hatte. Es war einfach Unrecht, und verstieß gegen die normale Ordnung der Dinge. Dass ihr Erwachsene Böses taten, war schmerzlich, aber irgendwie noch normal, so wie der Wolf eben das Schaf reißt. Der Große drückt den Kleinen, der Starke den Schwachen, so war es schon immer gewesen. Wenn sich aber Kinder gegen Erwachsene erhoben, stellte das die Welt auf den Kopf, und so empfand sie den Hohn, die Verfolgung und die Steine doppelt schmerzlich.
Warum waren die Menschen so böse? Die Kinder hatten es von den Alten, und die Alten waren auch einmal Kinder gewesen, und hatten es von ihren Eltern und Großeltern. Und so ging es immer weiter, sowohl zurück als auch in die Zukunft. Es war nicht einmal so, daß irgend eine Mutter oder Großmutter, irgendein Vater oder Großvater sagte: „Die Trine ist ein böser Mensch, eine Hexe, die muss aus dem Dorf!”, oder gar „tut euch doch zusammen und schmeißt der Trine die Fenster ein.” So etwas geschah viel versteckter, heimlicher und scheinbar zufälliger. Da ein Blick, dort eine abschätzige Bemerkung („die wird immer wunderlicher. Die redet mit ihren Hennen wie mit Kindern”) oder eine Gehässigkeit („die mit ihrer frechen Gosch, da kann doch kein Frieden im Dorf sein”) oder eine tückische Andeutung („ … dass die Kuh vom Brandner eingegangen ist? Naja, kurz vorher soll sich die Trine in der Nähe herumgetrieben haben”). Und dann machten sie noch die Erfahrung, dass die Eltern, die sonst jede Aufsässigkeit und jeden Fehler bemerkten und bestraften, offenbar nichts dagegen hatten – oder es vielleicht auch gar nicht mitbekamen und mitbekommen wollten – wenn sie der Trine einen bösen Streich spielten. Von den Erwachsenen war wenig zu befürchten, aber dennoch bestand der Reiz des Gefährlichen. Das war sogar noch grusliger, als wenn man den Kettenhund vom Ittlinger foppte – weil es riskanter war. Während der Hund – auch wenn er sich noch so wild aufführte – nicht von der Kette konnte, war man bei der Trine nie sicher. Wenn die Steine auf das Haus prasselten, saß sie hinter dem Vorhang versteckt am Stubenfenster. Nur die allermutigsten Jungen wagten es, sich so nahe heranzuschleichen, daß sie einen Blick auf sie werfen konnten. Meist reagierte sie nicht, aber ganz sicher konnte man nie sein, dass sie nicht plötzlich schreiend und fluchend heraus rannte. Jedenfalls war es schaurig und und es brachte ein wenig Leben in den harten und doch zugleich auch so öden Dorfalltag.
Die Straße wirkte auf den ersten Blick wie ausgestorben, aber in den Türen einiger Häuser waren scheinbar beschäftigte Leute zu sehen, die das Schauspiel gleichsam aus den Augenwinkeln verfolgten:
Eine dunkel gekleidete, abgehärmte und verbittert wirkende Frau, die sich schnellen Schrittes bewegte und die von einer Meute acht- bis fünzehnjähriger Kinder verfolgt, beschimpft und mit Steinwürfen traktiert wurde. Schnell schlossen sich die Türen, aber hinter den Fenstern waren alsbald teils abgestumpft wirkende, teils von wohligem Grauen erfüllte Gesichter zu sehen, die sich dieses zwar nicht neue, aber immer wieder aufregende Schauspiel nicht entgehen lassen wollten. Das hatte sie nun davon, die bissige Kreitmeier Trine mit ihrem bösen Mundwerk. Kaum einer empfand Mitleid – allenfalls ein wenig Schrecken angesichts der zügellosen Horde, die den Frieden im Dorf störte. Vielleicht dachte auch der eine oder andere für einen Augenblick daran, wie es ihm an Stelle dieser Frau gehen mochte, aber der Gedanke, was diese Rangen sonst noch anrichten konnten, ängstigte mehr. „Nun ja, so sind eben Kinder”, beruhigten sich die meisten. „Das gibt sich schon noch, wenn die erst mal älter geworden sind und richtig arbeiten müssen und einen eigenen Hausstand haben.” Und viele erinnerten sich ihrer eigenen Kindheit, die auch in dieser Hinsicht nicht anders gewesen war. Überall und immer gab es Dorfdeppen, die man ärgern konnte und alte Frauen mit dem bösen Blick, vor denen man sich schützen musste. Und die Trine trug schließlich selbst Schuld daran. Warum war sie auch so hochfahrend und stolz, so eigenbrötlerisch und bissig? Und dann war noch die Sache mit dem Bernhard. Sicher war so etwas schlimm, aber war sie denn ganz unschuldig? Selber war einem ja auch nichts dergleichen passiert. Eine Frau, die was auf sich hielt, wurde von so einem nicht überfallen. Wer sich aber so wie die aufführte, hatte sich das selbst zuzuschreiben. Da hatte ihr der Herrgott halt einen Denkzettel verpasst, aber sie hatte ihre Lektion nicht begriffen.
Endlich hatte Trine ihr Haus erreicht, und die Würfe wurden noch heftiger. Jetzt, wo dieses Spiel zu Ende ging, wollte jeder noch eine Chance auf einen gelungenen Wurf haben, aber wie durch ein Wunder erreichte sie die Hütte, ohne einen Treffer abbekommen zu haben. Es war gut, dass sie nicht abgeschlossen hatte, und so stieß sie die Tür auf, stürzte in die Stube und schlug den Riegel hinter sich zu.
Erschöpft und zitternd ließ sie sich auf das Sofa fallen. Bevor sie aber auch nur ein wenig zur Ruhe kommen konnte, prasselte der erwartete Steinhagel gegen die Hütte. Eine Scheibe zersprang, aber glücklicherweise trafen die meisten Brocken nur die Wände, wo sie einen Höllenlärm verursachten. Das kleine Haus bebte, und das schmerzte Trine, als ob sie selbst getroffen würde. Und da stieg wieder diese ungeheure Wut in ihr auf. Auf einmal hatte sie keine Angst mehr. Wieder spürte sie die Kraft, die sie jedes Mal erfüllte, wenn sie beschlossen hatte, nicht mehr Amboss, sondern Hammer zu sein, und so griff sie nach dem erstbesten Gegenstand, den sie fand, einen Reisigbesen, und stürzte heraus, ohne zu überlegen, ob das klug oder gefährlich war. Die Meute hockte hinter dem Stadel, und einer davon, der Georg Nanninger, einer der Anführer, war gerade im Begriff, mit einem besonders großen Brocken zu zielen. Als er Trine wie ein wild gewordenes Tier herausstürzen sah, stand ihm vor Überraschung der Mund offen. Sie fuchtelte wild mit dem Besen und stieß Verwünschungen aus, die er nicht verstehen konnte. Bevor er noch werfen konnte – diesmal hatte er es auf ihre Katze abgesehen – rannten zwei kleinere Kinder schreiend davon, und der Rest der Bande folgte ihnen, so dass er alleine stand und sein Wurf weit daneben ging.
Verstimmt folgte er den anderen und überlegte, was sie jetzt noch anstellen konnten. Jedenfalls würden sie ihren Spaß bei der nächsten Gelegenheit wiederholen und das Hexenhaus nicht aus den Augen lassen. Er hatte jedenfalls keine Angst, es mit der Alten aufzunehmen, aber alleine machte es keinen Spaß. Als er sich kurz umblickte, sah er die Frau nur noch von hinten, wie sie zurückging und dann die Tür hinter sich zuzog. Er hörte die Geräusche von Schloss und Riegel, dann war es still. Einige Minuten später stieg schwarzer Qualm aus dem Kamin.
Georg war verstimmt über die Feiglinge, die einfach die Flucht ergriffen hatten. Wieder einmal hatte er das Gefühl, kurz vor dem Höhepunkt um die Früchte seiner Anstrengungen betrogen worden zu sein. Andernfalls … was eigentlich? Hätten sie die Alte treffen wollen? Wenn sie dann vielleicht blutend am Boden gelegen wäre? Oder wenn man die Katze oder ein Huhn getroffen hätte? Am Ende hätte sich dann vielleicht auch noch der Pfarrer eingemischt, oder einer von den anderen Erwachsenen. Da das Denken aber nicht gerade seine besondere Stärke war, verfolgte er diese Idee nicht weiter, sondern machte sich auf die Suche nach der Bande, die wahrscheinlich jetzt schon unten am Bach war. Irgendein anderer Spaß würde ihnen schon noch einfallen …